Machtwort zur Wortmacht - Brief von einem jungen Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft

16 September 2018 12 views

die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 2018


Im Anfang ist das Wort ein Stottern, ein Drucksen, ein Lallen, ein Verlauten. Das Kleinkind spricht, bevor es

versteht. Nach und nach wird das Wort zum Satz und vom Satz zur Sprache erhoben. Das ganze Leben eines

Menschen dient dazu, die Sprache zu entdecken und sie gleichzeitig mit Verständnis und Bewusstsein zu

durchdringen. Der Mensch steht der grossen Herausforderung gegenüber, mit dem Wort ganz eins zu werden.

Das Wort wird im Menschen und der Mensch wird im Wort. Welche Verantwortung einem also zukommt,

sobald etwas zur Sprache kommt, ist kaum übersehbar. Als junge Teilnehmende der Generalversammlung

2018 möchte ich allen Wort-Verbundenen von dem Ab- und Eindruck, welche jene in mir hinterliess, ein

wörtliches Bild oder ein bildliches Wort vermitteln. Eine besonders tiefreichende Erschütterung erfuhr ich in

der Frage nach der Wiederbestätigung von Paul Mackay und Bodo von Plato. Die Art und Weise, wie man

über diese zwei Individuen debattierte, hinterliess in mir ein herber Beigeschmack von Rohheit und

Respektlosigkeit. Es schien, als wohne dieser Diskussion eine Stellvertreterfunktion inne: Den Streit, man

kann es wohl so nennen, glich einem Streit um die Anthroposophie im Allgemeinen. Während über diese zwei

Individuen debattiert wurde, (er)fand die Diskussion eine Plattform, in der gleichzeitig, um nicht zu sagen

hauptsächlich, um die Frage nach der «richtigen» Anthroposophie gestritten werden konnte – und indem man

sich nun so entgegenschrie, wie die «richtige» Anthroposophie zu sein habe (selbstverständlich gänzlich

bezogen bzw. projizierend auf die zwei Persönlichkeiten), verneinte sich, so kam es mir vor, die

Anthroposophie selbst. In der Entscheidungsbekanntgabe offenbarte sich schliesslich der endgültige Bruch:

Die Geister waren, so konnte man deutlich sehen, nun auch schwarz auf weiss gespalten.

Das Wort ist ein zweischneidiges Schwert: Es ist Brücke, Bindungs- und Verbindungspunkt sowie Anker des

Vertrauens. So können wir sehen, wie sich das ehemalige Vorstandsteam im Worte zusammenfand und darin

einig wurde, weiterhin zusammen arbeiten zu wollen. Sie erkannten die Vielfalt ihrer einzelnen Glieder als

Notwendigkeit, einer komplexen Welt auch in den kommenden Jahren gegenübertreten zu können. In dieser

Fürsprache der Vorstandsmitglieder äusserten sich diejenigen Menschen, die die zwei Persönlichkeiten nicht

nur am besten kannten, sondern auch durch die Entscheidung auf das engste betroffen sein sollten. Jede

Veränderung sollten sie am meisten zu spüren bekommen. Die Frage, wann einem Wort wieviel Geltung

beigemessen werden kann oder muss, soll sich hier jeder selber stellen. Auf der anderen Seite steht das Wort

hingegen für seine scharfe Klinge, die trennt und scheidet – unterscheidet. Und auch dieses Phänomen fand

seinen Platz in der Generalversammlung: Man riss das im Wort vereinte ehemalige Vorstandsteam ohne

Hemmung auseinander und entzweite es als Organbildendes mit dem Verkündigungs-Wort, korrekter

gesprochen, der Entscheidungsbekanntgabe. Das Vertrauen in das fremde Wollen erlitt nun in offenbarem

Charakter einen endgültigen Zusammenbruch. Wenn man diese zwei, an selbigem Orte miteinander

konfrontierten und sich antithetisch fügenden Stossrichtungen genauer betrachtet, so muss vor allem ein

Akzent gesetzt werden: Das Wort, das im Jetzt auftritt, ist Herrscher über die Zukunft und zugleich ein Zeugnis

der Vergangenheit. Die Entscheidung, die fiel, setzte den Baustein für das Kommende und brachte zugleich

die grosse Diskrepanz, die sich in der Vergangenheit nach und nach gebildet hat, in Zahlen zum Ausdruck. Es

ist also Neuschöpfung und Ausdruck eines bereits Dagewesenen zugleich. Hervorgehend aus dem

Schöpfungsakt durch das Wort, mündet das Wort in die Tat; es dringt allmählich in die alltägliche Wirklichkeit

ein. Dabei sind die Folgen und Konsequenzen reelle geworden. Wer sie in erste Linie zu tragen hat, ist im

Vorhergehenden bereits kurz angedeutet worden. Aber nicht nur der Vorstand, sondern alle Menschen, alle

Wort-Verbundenen, die ganze Welt wird bzw. muss teilnehmen an dieser Entscheidung auf die eine oder

andere Weise, sofern man davon ausgeht, dass die ganze Welt irgendwie miteinander verknüpft ist und nicht

in abgekapselten Teilen voneinander existiert. Welche Macht ein Wort haben kann und was für eine

Verantwortung damit einhergeht, ist, so meine ich, aus dem Vorangegangenen besonders dringlich ersichtlich.

Wir müssen uns immer kritisch fragen, wie unser Wort zur Welt, zum Ganzen steht und inwiefern es einen

Beitrag daran leisten möchte, was wiederum voraussetzt, dass wir klar davon unterscheiden, ob es gerade nur

unser eigenes Ego ist, das sich artikulieren will. Daran schliesst sich die Frage, was für eine zukünftige Welt

wir wollen. Wir sind dem Kleinkinde entwachsen, wir haben ein Verständnis von den Worten, die wir

sprechen. Was wir sprechen ist nicht mehr ein Versuch, es ist eine Entscheidung. Die Worte, die aus einer

Entscheidung, sei sie mehr oder auch weniger bewusst, hervorgehen, haben eine Macht - eine lebensfördernde

oder eine totbringende – welche wir wählen, ist uns überlassen.

Bevor ich mein Schreiben schliesse, ist es mir wichtig, Paul Mackay und Bodo von Plato zu danken. Durch

sie bin ich mit der Anthroposophie vertraut geworden und habe sie leben und lieben gelernt. Wenn man

bedenkt, dass es normalerweise die Welt ist, die das Wort in sich trägt, so muss ich sagen, dass, wenn sie aber

sprachen, ich einem Wort begegnet bin, dass die Welt in sich trug - ein Wort, dass, wenn sie es sprachen, zur

Welt wurde.

Sonja Maria Müller