Machtwort zur Wortmacht - Brief von einem jungen Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft
die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 2018
Im Anfang ist das Wort ein Stottern, ein Drucksen, ein Lallen, ein Verlauten. Das Kleinkind spricht, bevor es
versteht. Nach und nach wird das Wort zum Satz und vom Satz zur Sprache erhoben. Das ganze Leben eines
Menschen dient dazu, die Sprache zu entdecken und sie gleichzeitig mit Verständnis und Bewusstsein zu
durchdringen. Der Mensch steht der grossen Herausforderung gegenüber, mit dem Wort ganz eins zu werden.
Das Wort wird im Menschen und der Mensch wird im Wort. Welche Verantwortung einem also zukommt,
sobald etwas zur Sprache kommt, ist kaum übersehbar. Als junge Teilnehmende der Generalversammlung
2018 möchte ich allen Wort-Verbundenen von dem Ab- und Eindruck, welche jene in mir hinterliess, ein
wörtliches Bild oder ein bildliches Wort vermitteln. Eine besonders tiefreichende Erschütterung erfuhr ich in
der Frage nach der Wiederbestätigung von Paul Mackay und Bodo von Plato. Die Art und Weise, wie man
über diese zwei Individuen debattierte, hinterliess in mir ein herber Beigeschmack von Rohheit und
Respektlosigkeit. Es schien, als wohne dieser Diskussion eine Stellvertreterfunktion inne: Den Streit, man
kann es wohl so nennen, glich einem Streit um die Anthroposophie im Allgemeinen. Während über diese zwei
Individuen debattiert wurde, (er)fand die Diskussion eine Plattform, in der gleichzeitig, um nicht zu sagen
hauptsächlich, um die Frage nach der «richtigen» Anthroposophie gestritten werden konnte – und indem man
sich nun so entgegenschrie, wie die «richtige» Anthroposophie zu sein habe (selbstverständlich gänzlich
bezogen bzw. projizierend auf die zwei Persönlichkeiten), verneinte sich, so kam es mir vor, die
Anthroposophie selbst. In der Entscheidungsbekanntgabe offenbarte sich schliesslich der endgültige Bruch:
Die Geister waren, so konnte man deutlich sehen, nun auch schwarz auf weiss gespalten.
Das Wort ist ein zweischneidiges Schwert: Es ist Brücke, Bindungs- und Verbindungspunkt sowie Anker des
Vertrauens. So können wir sehen, wie sich das ehemalige Vorstandsteam im Worte zusammenfand und darin
einig wurde, weiterhin zusammen arbeiten zu wollen. Sie erkannten die Vielfalt ihrer einzelnen Glieder als
Notwendigkeit, einer komplexen Welt auch in den kommenden Jahren gegenübertreten zu können. In dieser
Fürsprache der Vorstandsmitglieder äusserten sich diejenigen Menschen, die die zwei Persönlichkeiten nicht
nur am besten kannten, sondern auch durch die Entscheidung auf das engste betroffen sein sollten. Jede
Veränderung sollten sie am meisten zu spüren bekommen. Die Frage, wann einem Wort wieviel Geltung
beigemessen werden kann oder muss, soll sich hier jeder selber stellen. Auf der anderen Seite steht das Wort
hingegen für seine scharfe Klinge, die trennt und scheidet – unterscheidet. Und auch dieses Phänomen fand
seinen Platz in der Generalversammlung: Man riss das im Wort vereinte ehemalige Vorstandsteam ohne
Hemmung auseinander und entzweite es als Organbildendes mit dem Verkündigungs-Wort, korrekter
gesprochen, der Entscheidungsbekanntgabe. Das Vertrauen in das fremde Wollen erlitt nun in offenbarem
Charakter einen endgültigen Zusammenbruch. Wenn man diese zwei, an selbigem Orte miteinander
konfrontierten und sich antithetisch fügenden Stossrichtungen genauer betrachtet, so muss vor allem ein
Akzent gesetzt werden: Das Wort, das im Jetzt auftritt, ist Herrscher über die Zukunft und zugleich ein Zeugnis
der Vergangenheit. Die Entscheidung, die fiel, setzte den Baustein für das Kommende und brachte zugleich
die grosse Diskrepanz, die sich in der Vergangenheit nach und nach gebildet hat, in Zahlen zum Ausdruck. Es
ist also Neuschöpfung und Ausdruck eines bereits Dagewesenen zugleich. Hervorgehend aus dem
Schöpfungsakt durch das Wort, mündet das Wort in die Tat; es dringt allmählich in die alltägliche Wirklichkeit
ein. Dabei sind die Folgen und Konsequenzen reelle geworden. Wer sie in erste Linie zu tragen hat, ist im
Vorhergehenden bereits kurz angedeutet worden. Aber nicht nur der Vorstand, sondern alle Menschen, alle
Wort-Verbundenen, die ganze Welt wird bzw. muss teilnehmen an dieser Entscheidung auf die eine oder
andere Weise, sofern man davon ausgeht, dass die ganze Welt irgendwie miteinander verknüpft ist und nicht
in abgekapselten Teilen voneinander existiert. Welche Macht ein Wort haben kann und was für eine
Verantwortung damit einhergeht, ist, so meine ich, aus dem Vorangegangenen besonders dringlich ersichtlich.
Wir müssen uns immer kritisch fragen, wie unser Wort zur Welt, zum Ganzen steht und inwiefern es einen
Beitrag daran leisten möchte, was wiederum voraussetzt, dass wir klar davon unterscheiden, ob es gerade nur
unser eigenes Ego ist, das sich artikulieren will. Daran schliesst sich die Frage, was für eine zukünftige Welt
wir wollen. Wir sind dem Kleinkinde entwachsen, wir haben ein Verständnis von den Worten, die wir
sprechen. Was wir sprechen ist nicht mehr ein Versuch, es ist eine Entscheidung. Die Worte, die aus einer
Entscheidung, sei sie mehr oder auch weniger bewusst, hervorgehen, haben eine Macht - eine lebensfördernde
oder eine totbringende – welche wir wählen, ist uns überlassen.
Bevor ich mein Schreiben schliesse, ist es mir wichtig, Paul Mackay und Bodo von Plato zu danken. Durch
sie bin ich mit der Anthroposophie vertraut geworden und habe sie leben und lieben gelernt. Wenn man
bedenkt, dass es normalerweise die Welt ist, die das Wort in sich trägt, so muss ich sagen, dass, wenn sie aber
sprachen, ich einem Wort begegnet bin, dass die Welt in sich trug - ein Wort, dass, wenn sie es sprachen, zur
Welt wurde.
Sonja Maria Müller